Freitag, 3. Februar 2012

Lieselotte und die Homeschooler

Oder: ein paar Gedanken zu einem kontroversen Thema

Aus irgend welchen Gründen stolpere ich in den letzten Monaten immer wieder über dieses Wort: Homeschooling. Watt'n das? Kind wird nicht in die Schule geschickt, sondern zu Hause von Mama, Papa, Oma, Opa (...) unterrichtet. Verboten in Deutschland, weil hier Schul- und nicht nur Unterrichtspflicht herrscht, aber durchaus gang und gäbe in anderen Ländern dieser schönen Erde - zum Beispiel in Großbritannien oder, Paradebeispiel, den USA.

Olivia (UK), Helga (Deutschland)

Olivia, Britin polnischer Herkunft, zum Islam konvertiert, der Mann aus irgend einem arabischen Land, Sohn ein Jahr jünger als das Lieschen, will (muss, das Kind hat massenweise Allergien, weswegen kein Kindergarten ihn aufnimmt) in jedem Fall vier Jahre mit Sohn zu Hause bleiben - und ihn danach am liebsten selbst unterrichten. Helga, Deutsche katholischen Glaubens, noch kein Kind (aber man wird ja wohl planen dürfen) denkt auch darüber nach.

Nicht für mich

Ich verstehe das nicht. Davon abgesehen, dass ich komplett am Rad drehen würde (ja, es geht noch schlimmer...), müsste ich den ganzen Tag mit dem Lieschen zu Hause bleiben - und ich eigentlich etwas anderes mit meinem Leben vorhatte als Lehrerin zu sein (nicht, dass an dem Beruf irgend etwas auszusetzen wäre, aber ich habe einfach andere Präferenzen) - sind es zwei weitere Punkte, die mich bei dieser Begeisterung für das Thema Homeschooling zum Nachdenken bringen.

Wirklich so schlimm?

Erstens wundert mich das Misstrauen gegenüber den Schulen. Es mag viele Probleme geben, aber ob es (vor allem in Deutschland) so schlimm ist, dass man den Job gleich schon selbst übernehmen muss...? Ich war nicht auf einer weiterführenden Schule mit sehr gutem Ruf (und das ist euphemistisch ausgedrückt), aber mir fallen spontan vier Lehrer ein, die exzellenten Unterricht angeboten haben - in den letzten Jahren eindeutig schon auf Universitätsniveau. An anderen Punkten mag es gehapert haben, aber es gab für die, die sich interessiert haben, immer auch Zusatzangebote in Form von Arbeitsgemeinschaften, Wettbewerben und so weiter. Darüber hinaus würde es mich wundern, wenn diese Kinder, deren Eltern sich so sehr um ihre Ausbildung sorgen, nicht auch zu Hause und außerhalb der Schule eine ganze Reihe an Bildungsangeboten gemacht bekämen. Macht da eine nur mittelmäßige Schule wirklich so viel aus? Und: Kann ein Kind idealerweise nicht auch an eher schwierigen Bedingungen in der Schule wachsen?

"Wisst ihr wirklich, was da auf euch zukäme?"

Zweitens glaube ich bei einigen der Homeschool-Interessierten in meinem Umfeld eine gewisse Naivität zu sehen, und zwar eine zweigefächerte. Zum einen denke ich, dass manche den Job des Lehrers schlicht unterschätzen. Ich habe selbst lange unterrichtet, und es ist keineswegs so, dass man sich einfach vor die Klasse (oder in diesem Falle: das Kind) stellt und einfach mal loslegt. Es gibt Gründe, warum Lehrer zum Lehrerwerden studieren müssen. Das kann nicht jeder daher gelaufene Schluffi. Ich muss nur sehen, wie das Lieschen plärrt und schreit, wenn es darum geht, sich von Mama die Zähne putzen zu lassen / das Puzzle jetzt wegzuräumen / den Schlafanzug zu holen und dann auch anzuziehen ... und wenn dann Papa / Oma / Freundin vorbei geschlendert kommt und nach genau dem gleichen verlangt, klappt das wunderbar. Will ich wirklich die Beziehung zu meinem Kind dahin gehend verkomplizieren, dass ich noch die formale Dimension Lehrer - Schüler hinzufüge?

"Ihr habt nicht alles in der Hand"

Das war die eine Seite der Naivität, die ich bei einigen meiner Bekannten, die Homeschooling dolle finden, bisweilen zu sehen glaube und die ich gerne mal fragen würde: Wisst ihr wirklich, was da auf euch zukäme? Die zweite Seite lässt sich ebenfalls in einem Satz zusammenfassen (ihr habt nicht alles in der Hand) und richtet sich an die Homeschooler, die meinen, ihr Kind zu Hause unterrichten zu müssen, um es dem (vermeintlich oder tatsächlich, das sei dahin gestellt) schlechten Einfluss der Lehrer, die nie die wahre Lehre, sondern ein verzerrtes Bild vom Islam, dem Christentum oder ich-weiß-nicht-was vermitteln würden. Dass man als Eltern entscheiden will, wie dem Kind die eigene Philosophie und Lebensweise beigebracht wird, ist verständlich.

Keiner erzieht ein Kind alleine

Aber es ist naiv, zu glauben, dass man sein Kind abschirmen könnte. Das wird nichts. Ich bin in der Zwischenzeit ziemlich davon überzeugt, dass der größte Einfluss vom Elternhaus ausgeht. Schule und Kindergarten können vielleicht ein kleines bisschen was ausbügeln, aber so stark, dass sie ein Kind, um das sich zu Hause richtig gekümmert wird, völlig zu verhunzen - so stark sind unsere Schulen und Kindergärten nicht. Gleichzeitig erzieht keiner sein Kind alleine. Man kann Grundlagen legen, aber was draus wird - das weiß man nicht, zu viele Einflüsse gibt es aus zu vielen Richtungen; zu viele Faktoren, die zu bestimmen wir nicht im Stande sind. Dann homeschoole es halt, dein Kind. Aber eine Garantie, dass dann alles gut (so wie du es dir vorstellst) wird, hast du damit auch nicht. Kann immer noch ein gelegentlich
drogenkonsumierendes, freieliebepraktizierendes, vonfreimaurerideologieinspiriertes, billigepopmusikliebendes, ziemlichungebildetetes (na, stehen euch schon die Haare zu Berge?) rotzfreches Gör draus werden. Tja.

Kritisch hinterfragter Glaube

Drei Gedanken. Und ein letzter, an die Religiösen: Kann es ein Kind nicht auch stärker in seinem Glauben (und Praxis) machen, wenn es in der Schule durch andersdenkende Lehrer herausgefordert wird? Sofern zu Hause eine solide Grundlage gelegt wurde, kann die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden doch einen überaus positiven Effekt haben: Kein Glaube ist so stark wie ein durch und durch durchdachter Glaube, ein kritisch hinterfragter Glaube, einer der sich reiben und auseinandersetzen musste. Ich konnte nie die Cousine meines Mannes verstehen, die ihre Kinder partout im Middle East statt in den USA großziehen wollte: Dort, in der muslimischen Mehrheitsgesellschaft wären sie Muslime aus Gewohnheit geworden. In den USA, wo sie als Minderheit leben, werden sie vielleicht - inshaallah - Muslime aus Überzeugung. Ich weiß es nicht, wie es euch geht, aber ich würde die zweite Variante eindeutig bevorzugen.

Zweifel

Having said all this, könnt ihr natürlich alle machen, was ihr wollt. Sind eure Kinder, ist euer Leben, bitteschön. Aber ob das wirklich so laufen würde mit dem Homeschooling, wie ihr es euch vielleicht vorstellt - ich wage, es zu bezweifeln.

3 Kommentare:

Chadidscha hat gesagt…

Das Thema ist zwar bei mir schon lange gegessen ;) - habs aber trotzdem gelesen und bin durchaus deiner Meinung.

Und ich kann es nicht lassen, dir für diesen wunderbaren Satz zu danken:

«Kein Glaube ist so stark wie ein durch und durch durchdachter Glaube, ein kritisch hinterfragter Glaube, einer der sich reiben und auseinander setzen musste.»

Cassandra hat gesagt…

Hallo,

ich habe mich mit dem Thema Weile beschäftigt.

Im ersten Schuljahr hatten wir eine Schule "erwischt", bei der wir beide Eltern von Anfang an dachten "oh mein Gott, nein!". Ummelden an eine andere Schule konnten wir unseren Sohn nicht. Wir hätten ihn an eine Privatschule schicken können, aber die hatten Wartelisten so lang wie mein Arm und da wir bei seiner Geburt noch in einem anderen Bundesland gewohnt hatten, war die Chance vertan.

Ich denke, dass es wichtiger ist, dass Kinder lernen als das sie unbedingt in der Schule sitzen.
Solange das Kind die staatlichen Mindestanforderungen (also Hauptschulniveau) erfüllt, sollte der Staat freistellen, wie es lernt. Ich bin schwer dafür, dass mit Hilfe von Tests kontrolliert wird, ob das Kind wirklich zu Hause lernt oder nur rumdöddelt (das funktioniert in Österreich ja auch).

Wesentlich mehr Sorgen machen mir die Jugendlichen, die die Schule verlassen ohne vernünftig lesen und schreiben zu können und so auf dem Arbeitsmarkt nicht wirklich eine Chance haben und mit etwas Pech ein Leben lang vom Staat unterhalten werden müssen.

Wir haben ein Jahr lang auf dieser Schule durchgehalten. Unser Sohn sass nur im Unterricht da, er machte nicht mit, dass war lt. den Lehrinnen auch völlig ok so, das müsse er selbst wissen ob er mitmachen wolle oder nicht.
Wir haben einen Schulwechsel durchbekommen, mit viel Gerenne und Arbeit. Jetzt, in der 2. klasse, hält er mehr als nur gut mit. Den Stoff der ersten Klasse habe ich nachmittags vermittelt- also nachdem er seine Stunden in der Schule abgesessen hatte. Das fand ich unfair gegenüber dem Kind, aber da Bildung nun mal zu wichtig ist, um sie der Schule blind zu überlassen haben wir uns das "gegeben".

Leid tun mir die Eltern udn Kinder, die an Schulen "aushalten" müssen obwohl ihre Kinder da falsch aufgehoben sind, die Jugendlichen, die in Klassen gehen, in denen der Unterrichtsbetrieb zusammengebrochen ist und wo fast nur noch randaliert wird und die Schüler, die lernen wollen, dadran gehindert werden, ihre Zeit aber trotzdem absitzen müssen.

Ich bin definitiv für eine Bildungspflicht, aber wie man sie erfüllt muss dem Schüler und seiner Familie freigestellt werden.

Solange Kinder (bzw deren gesetzliche Vertreter) nicht das Recht haben, Unterricht auch einzuklagen wenn zu viel Unterricht ausfällt, der Lehrer lieber Videos gucken lässt, die Klasse das gefühlt 12. "Sozialkompetenztraining" bekommt, solange sollten Eltern im Interesse ihrer Kinder entscheiden dürfen, wo unterrichtet wird.

Stine Eckert hat gesagt…

Liebe Lieselotte,

mein Name ist Stine Eckert und ich bin eine deutsche Doktorandin in der Journalistik der Universität von Maryland.

Kübra Gümüsay hat uns in einem Interview auf Ihren Blog aufmerksam gemacht. Ich arbeite zusammen mit einer Professorin an einem Forschungsprojekt zur Rolle von Blogs von muslimischen Autorinnen und Autoren in Deutschland.

Wir würden Sie gerne fragen, ob Sie uns ein Interview geben würden. Das Interview würde sich um ihre Rolle und Arbeit als Bloggerin drehen und Ihre Erfahrungen mit Ihrem Blog und traditionellen Medien. Wir würden das Interview per Skype oder Telefon führen und es würde ca. 30 Minuten dauern. Wäre es möglich, dass Sie uns ein Interview geben könnten?

Bitte e-mailen Sie mir Bescheid, meine Adresse ist keckert@jmail.umd.edu.

Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie teilnehmen würden.

Vielen Dank und viele Grüße,
Stine Eckert

--
Stine Eckert
PhD Student
Philip Merrill College of Journalism | University of Maryland | Knight Hall 2100N
College Park, MD 20742 | USA
keckert@jmail.umd.edu